From Ukraine With Love

von Volodymyr Brodzinskyy

Nach Russlands Überfall auf die Ukraine war ich dreimal in meinem Herkunftsland. Es entstand ein kleines Tagebuch, in dem ich über das dort Geschehene geschrieben habe. Gern möchte ich meine Impressionen und Gedanken teilen.

Im Leben gibt es Wendungen, sodass das Entfernteste und am wenigsten Wahrscheinliche plötzlich ganz nah ist und wir gezwungen sind, uns mit der über uns hereinbrechenden düsteren Finsternis zu befassen. Hineinziehen kann uns eine tödliche Krankheit, vor der uns nicht einmal unermesslicher Reichtum zu bewahren vermag. Ein erfahrener Autorennfahrer kann beim Skifahren mit dem Kopf auf einem Stein aufprallen. Wir können Zeitung lesend an Bord eines Großraumflugzeugs von einer Boden-Luft-Rakete abgeschossen werden…

 

Das ist alles absurd

Doch die Bilder aus der Ukraine, das Ausmaß der Zerstörung der Städte, die durch verbrannte Militärgegenstände und Schützengräben verschandelten Landschaften, die Politiker und Fernsehmoderatoren, die überall auf der Welt wie selbstverständlich über den Atomkrieg und Weltuntergangswaffen sprechen – all das geht über unseren Verstand und ist fernab unserer heutigen Lebensweise. Das ist alles absurd. Genauso, dass das lateinische Wort „bellum“, sowohl „der Krieg“ als auch „das Schöne“ bedeuten kann…

Dass es den Krieg geben wird, wurde mir klar, als ich Putins letzte Neujahrsansprache, kurz vor dem Überfall auf die Ukraine, sah. Auch diesmal wünschte er seinen Landsleuten die Erfüllung ihrer Pläne, Gesundheit, etc., aber zum ersten Mal seit vielen Jahren vergaß er, seinen Mitbürger*innen Frieden zu wünschen. Die Menschen verraten sich nicht nur dadurch, was sie sagen, sondern auch dadurch, was sie nicht sagen.

Im Februar 2022 wollte ich in die Ukraine fahren, meine alte Mutter besuchen und auch Zeit mit meinem langjährigen guten Bekannten Anatoli Streljany verbringen. Er wohnt heute wieder in seiner Heimat im Gebiet Sumy, unweit von der russischen Grenze, in der Vergangenheit lebte er viele Jahre in Moskau, wo er während der Perestroika und dem Zerfall der UdSSR in berühmten oppositionellen Zeitschriften publizierte und Mitglied des Redaktionskollegiums der legendären Zeitschrift „Nowy Mir“ war, die einst einen nicht unwesentlichen Beitrag zum Sturz der Diktatur geleistet hat.

Später, bereits in der Putin-Zeit, moderierte Streljany eine Sendung für den russischsprachigen Dienst des amerikanischen Senders Radio Liberty aus Prag und drehte mit einer österreichischen Filmcrew mehrere Dokumentationen über die Ukraine. Mit 65 Jahren beschloss er, in seine Heimat zurückzukehren und von dort für Russ*innen und Ukrainer*innen zu schreiben. Jetzt ist Anatoli Streljany 83. Genau drei Wochen nach seinem Geburtstag überfiel Russland die Ukraine.

Die Kurstadt, aus der ich stamme

Nach Kriegsausbruch habe ich mich auf den Weg gemacht, mich in Wien in einen Nachtzug gesetzt und bin über Budapest in die Ukraine gefahren, wo ich schon am nächsten Morgen angekommen bin — ich habe es sogar fast von der ungarischen Grenze bis nach Truskawez geschafft, der kleinen Kurstadt mit bekannten Heilquellen (das ukrainische Karlsbad), aus der ich stamme.

Einst kamen Urlauber*innen aus der ganzen UdSSR hierher und meine Mutter arbeitete damals als Putzfrau in einem Militär-Sanatorium.

Als ich auf dem Bahnhofsvorplatz der Stadt Stryi auf den Bus wartete, sprach mich Wassja, der hagere, nicht mehr ganz so junge Fahrer eines Ikarus-Busses an, der eine Zigarette nach der anderen qualmte. Er wusste nicht, was er tun sollte, weil er gemeinsam mit einem Kollegen Richtung Osten hätte fahren und auf der Straße zwischen Lwiw und Zhytomyr eine Gruppe von Schulkindern aus einem Internat so weit als möglich weg vom Krieg an einen sicheren Ort in den Karpaten hätte bringen sollen. Aber sein Kollege war nicht aufgetaucht, telefonisch erreichte er ihn nicht und die Zeit drängte. Aus unerfindlichen Gründen schlug ich Wassja vor, ihn zu begleiten, und aus ebenso unerfindlichen Gründen vertraute er mir und stimmte zu.

Auf dem Rückweg, als der Bus bereits voller Kinder war, die von ihrem Sportlehrer und ihrem Deutschlehrer begleitet wurden, lasen wir an einer Tankstelle noch einen griechisch-katholischen Geistlichen auf, der per Autostopp nach Lwiw unterwegs war. In der Nacht ruhten wir uns ein paar Stunden aus, Wassja und ich im Bus, der Pfarrer, die Lehrer und die Kinder auf Sportmatten im Keller einer Dorfschule. Die Kinder fanden dort einen Behälter mit schwarzer Farbe und irgendjemand schrieb damit „Putin ist ein Wichser“ – ein ungehöriges, aber in der Ukraine inzwischen sehr gebräuchliches Meme – auf die Seitenwand des Busses. Wassja fiel das am Morgen auf, als er unseren Bus inspizierte, mit einem verschmitzten Lächeln und einer Kopfbewegung machte er den Pfarrer darauf aufmerksam, stieg ein und ließ den Motor an.

Der Verhältnis Russlands zur Ukraine

Der Bus fuhr gen Westen, in seinem Inneren nahmen die Gespräche ihren Lauf. Um nicht hinter dem Steuer einzuschlafen, hatte Wassja darum gebeten, dass wir uns mit ihm unterhielten. Ich saß neben ihm, der Deutschlehrer und der Pfarrer saßen in der ersten Reihe praktisch direkt hinter uns. Wassja erzählte, wie er vor drei Jahren zum letzten Mal mit den Enkeln in der Türkei auf Urlaub gewesen war, dass er dieses Jahr mit ihnen nicht dorthin fahren würde, da die angespannte Weltlage dies nicht zulasse, er erzählte von seinem listigen Kater Wasska, dem kleinen Räuber, und natürlich sinnierte er über Russland. Das Verhältnis Russlands zur Ukraine erinnerte Wassja an seinen Nachbarn, der letztes Jahr von seiner Frau verlassen worden war.

Er zog monatelang wie ein Hai Kreise um das Haus seiner Ex, warf Steine ins Fenster und am Ende schüttete er Benzin über die Eingangstür, kam aber nicht dazu, sie in Brand zu stecken, weil die Nachbarn ihn zurückhielten… Daraufhin rezitierte der hinter uns sitzende Deutschlehrer mit tiefer Stimme aus Goethes Erlkönig: „Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt“. Der Geistliche hatte seine eigenen Assoziationen. Die penetranten Überlegungen Putins zu den beiden Brudervölkern erinnerten ihn an die Geschichte von Kain und Abel, die er uns hingebungsvoll erzählte, während er die Elfenbeinkügelchen an der Gebetskette mit dem Kreuz durch die Hand gleiten ließ.

„KINDER“

Unser Bus, der neben dem ungehörigen Spruch auf der Seitenwand auf der Frontscheibe in großen Buchstaben die Aufschrift „KINDER“ trug, kam erst gegen Mittag und nur durch die Unterstützung der Polizei auf dem Bahnhofsvorplatz in Stryi an, nachdem er sich durch die Schlange der weiter nach Westen schleichenden Autos mit Kennzeichen aus Zhytomyr, Kiew und Charkiw gekämpft hatte. Meine Mission war erfüllt und ich verabschiedete mich von den Kindern. Der Bus fuhr davon und ich winkte ihm hinterher, wobei ich zum letzten Mal die ungehörige Aufschrift „Putin ist ein Wichser“ las. Nun war es an der Zeit, zu meiner Mutter nach Truskawez zu fahren.

Meine Mutter Stefania

Meine Mutter heißt Stefania. Mit ihren 100 Jahren ist sie vermutlich die Älteste in unserer Stadt. Sie hört schon fast nichts mehr, aber ihr Verstand ist noch klar, normalerweise liest sie jeden Tag zwei Zeitungen, ohne Brille, und sie liest meine alten Schulbücher sowie die meines Bruders. Sie kann noch ein bisschen Deutsch, denn 1941 wurde sie zum Arbeiten nach Deutschland gebracht. Dort versorgte sie bei einem Bauern die Schweine, machte auf dem Hof, was ihr angeschafft wurde. Der Krieg endete für sie damals mit der Befreiung. In das Dorf Scheidelwitz (heute Szydłowice), das sich ganz in der Nähe der Oder befand, kamen „unsere“ Befreier – die russischen Rotarmisten. Zwei Tage vor ihrer Ankunft hatten die deutschen Bauern in Windeseile ihre Habseligkeiten zusammengepackt und waren geflohen. Nur ukrainische und polnische Mägde waren im Dorf geblieben. Erst letztes Jahr (früher, als sie noch jung war, war es ihr vermutlich peinlich gewesen) hat mir meine Mutter erzählt, dass unsere Soldaten nachts unsere Mädchen vergewaltigt haben. „Wahrscheinlich, weil wir für die Deutschen gearbeitet haben“, erklärte sie. Einen Vorwand, um menschliche Abscheulichkeiten zu rechtfertigen, finden nicht nur die Täter, sondern auch ihre Opfer.

Mit dem Zug von der Mutter weiter nach Ochtyrka zu Anatoli Streljany zu fahren, klappte nicht. Ich konnte mich einfach nicht dazu durchringen, weil diese kleine, ruhige Stadt, mit der wunderschönen Kathedrale, die der berühmte Petersburger Architekt Bartolomeo Francesco Rastrelli schon im 18. Jahrhundert errichtet hatte, bereits in den ersten Kriegstagen von den Russen in die Zange genommen worden war. ​​​

Lärm der Sirenen und der Explosionen

Am Telefon erzählte mir Anatoli wie die Raketen in seiner Straße einschlugen, Bomben fielen vom Himmel. Und wie jedes Jahr kehrten Ende März die Störche zurück, nichts ahnend von dem Unglück, ohne die Ereignisse zu begreifen und völlig verstört durch den Lärm der Sirenen und der Explosionen. Er erzählte auch, wie in der Nacht eine Bombe eine ukrainische Kaserne getroffen habe und 70 neurekrutierte junge Soldaten dabei ums Leben gekommen seien, und dass Gerüchten zufolge am nächsten Tag ein Jäger aus der Gegend im an die Stadt angrenzenden Wald auf drei russische Soldaten gestoßen sei, die auf einem Feuer Grütze gekocht hätten. Er habe alle drei mit seiner doppelläufigen Flinte umgelegt und in die Grütze gespuckt.

Von den Fenstern des Präsidenten im Kreml bis zur Kremlmauer, wo die Überreste des Verbrechers Stalin in einem Grabdenkmal liegen, ist es nur ein Steinwurf, aber dieser Präsident sucht hartnäckig nach Verbrechen von Nazis, Tausende Kilometer entfernt in der Ukraine. Und Kyrill, der Patriarch von Moskau und der ganzen Rus, hat das Gebot „Du sollst nicht lügen“ vergessen und erklärt den Gläubigen: „Russland hat niemals irgendjemanden angegriffen“.

Im Radio hörte ich von ukrainischen Störchen, die stundenlang über der Frontlinie östlich von Charkiw kreisen. Ich war überrascht, dass es ukrainische Störche gibt, bis ich begriff, dass es sich um die neue Storch-Drohne (ukrainisch Leleka) handelt. Der Soldat, dem in der Kindheit erzählt wurde, dass die Störche Kinder bringen, erklärte, eine der Pflichten dieses Vogels sei nun, das Artilleriefeuer in die richtige Richtung zu lenken.

Ich sehe mich in den sozialen Netzwerken um und lese Zeitungen.​​​

  • „Die Grenzen Russlands enden nirgendwo“, daher erinnern die Verhandlungen mit Moskau an ein Damespiel, bei dem die eine Seite auf den schwarzen Feldern vorrückt und die andere auf den weißen. So können die beiden niemals aufeinandertreffen… Zhyrinowski ist gestorben – jener Politiker, der geschworen hat, Kiew in Schutt und Asche zu legen. Seltsam, dass ein Mensch mit derartigen Eskapaden einmal Zweiter Sekretär des Sowjetischen Komitees für den Schutz des Friedens war …
  • Die Ankündigungen von russischer Abgeordneten, Russland werde Mariupol in einen blühenden Garten verwandeln, erinnern dem Stil nach an Methoden sizilianischer Mafiosi. Auch bei ihnen ist es üblich, einen Mord zu begehen und dann einen üppigen Kranz für das Grab ihres Opfers zu schicken.
  • Auf beiden Seiten sind bereits mehr Menschen gestorben als sowjetische Soldaten in den neun Jahren des Afghanistan-Kriegs gefallen sind. Noch sind nicht alle Leichen geborgen und bestattet…

Auf einem ramponierten russischen Panzer hat jemand neben das große Z ein kleines „n“ gemalt. In Mendelejews Periodensystem steht Zn für das Element Zink, das an Särge erinnert… Ein russischer Flieger warf Bomben auf die Ukraine ab, wo seine Mutter lebt, wurde abgeschossen und geriet in Gefangenschaft… Ich schaue mir von Zeit zu Zeit auch die russischen Programme im Internet an, wie geschickt die besten TV-Pyromane Russlands (Frau Simonyan und Herr Solovyov) mit Raspeln ihrer Zungen Hirne ihrer Landsleute schleifen. Mit den Worten kann man bekanntlich den Boden nicht nur für das Gute, sondern auch für das Böse bereiten.

In meiner kleinen Kurstadt Truskawez wurde mittlerweile ein Militärkrankenhaus eröffnet. Im angrenzenden Park spazieren neben den Besucher*innen und Erholungssuchenden mit Kindern und Hunden auch die Patient*innen – jede*r so, wie sie/er kann: die einen mit Krücken, andere wiederum veranstalten Rennen und flitzen mit ihren verkrüppelten Körpern und vom Krieg verwundeten Seelen in ihren Rollstühlen dahin. Und auf dem Friedhof sieht man die ersten Gräber von jungen Männern aus unserer Gegend.

Ich habe Angst zu sterben

​​​​​​​Mein Enkel E., ein Militärpolizist, ist jetzt im Osten der Ukraine, und mein Neffe R. kann auch bald einberufen werden. Er schreibt mir: Ich habe Angst zu sterben. In meinem Truskawez, auf dem Friedhof sah ich frische Gräber der gefallenen Soldaten, und an einer Tankstelle die Rekruten, die an mir vorbeizogen. Neben mir stand ein Großvater am Grab seines Enkels, legte seine Hand über die Augen, schirmte die Tränen ab, und wenn ich gläubig (ich bin nur religiös) wäre, so würde ich gleich in die Kirche gehen und beten, dass niemals die Krücken an die Tür dieses Alten schlagen und wenn die Briefe ankommen mögen, dann lang und lebendig. Abgeküsst sind sie vorbeimarschiert und der Alte stand im Sonntagsanzug herum, als ginge er gleich zu einer Beerdigung.

Ich ertappe mich beim Gedanken, dass die schlimmsten Dinge auch etwas Gutes bewirken können. Längst überlegte ich mir, ob ich nicht meine fast hundertjährige Mutter zu mir nach Wien holen soll. Der Krieg wurde dabei eine Art Beschleuniger. Nach dem Tod meines jüngeren Bruders Zhenya blieb meine Mama mit ihrer Schwiegertochter und Enkel zurück, und ihre Situation begann jener Kafkas Gregor zu ähneln. Man kommunizierte kaum mit ihr, der Einsamkeit.

Jetzt ist sie in Wien

Nun, jetzt ist sie in Wien. Hier schlagen schon die Knospen aus.  Jedes Mal, wenn ich mit ihr aus dem Haus gehe, ist es für sie eine Reise.  Es fehlt ihr hier an nichts.  Sie ist krankenversichert, in unserer Wohnung ist es immer warm, wir haben 24 Stunden am Tag Strom, über unseren Köpfen treiben sich keine Raketen herum, nur der freie blaue Himmel und das österreichische Finanzamt.

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Volodymyr Brodzinskyy ist Rückkehrberater der BBU.

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