In Österreich übernehmen der Ukraine-Flüchtlingskoordinator der Bundesregierung und die Ukraine-Hotline der BBU eine wichtige Rolle bei der Integration der Vertriebenen. Nach wie vor gibt es viele offene Fragen. Die Dringlichste ist jene der weiteren Unterstützung.
Eine 61-jährige Frau, die aufgrund einer Minenexplosion ein Schädel-Hirn-Trauma mit Frakturen im Gesichtsbereich erlitten hat. Ein 31-jähriger Mann mit einer Durchschusswunde, mehreren Knochenbrüchen und einer Schussfraktur. Ein siebenjähriger Bub, dessen Bein amputiert werden muss. All das sind Verletzungen, die Menschen aufgrund des russischen Angriffskriegs erlitten haben. Ein Krieg, der seit drei Jahren wütet – und das nicht in weiter Ferne, sondern in Europa.
Die Folgen des Krieges zeigen sich in Zahlen. Mehr als 10 Millionen Ukrainer*innen sind geflüchtet, viele auch nach Österreich. Die einzelnen Menschen, Schicksale und Geschichten stehen hinter diesen Zahlen. Wie jene der achtjährigen Sasha aus Kyjiw, die nach schweren Verbrennungen 36-mal im Kepler Universitätsklinikum in Linz operiert wurde
Menschen, Schicksale und Geschichten
Nach wie vor kommen viele Menschen in Österreich an, um hier Schutz zu suchen. Der Grund ist klar: Die Infrastruktur in der Ukraine ist zerstört, es gibt kaum Strom, es ist kalt. Die Heizmöglichkeiten sind begrenzt.
Die geänderten Bedingungen in anderen Ländern führen ebenfalls dazu, dass Menschen nach Österreich kommen. Ungarn, Slowakei und Tschechien haben die Gewährung für Unterstützungsleistungen verschärft.
“Monatlich treffen rund 1.200 bis 2.000 Menschen aus der Ukraine ein. Somit sind die Zahlen in den Erstankunftszentren weiterhin hoch. Vor allem in Wien und Graz müssen regelmäßig Menschen an andere Ankunftszentren verwiesen und somit weggeschickt werden”, erklärt Andreas Achrainer, seit Juli 2022 Ukraine-Flüchtlingskoordinator der Bundesregierung.
Im ersten Jahr des Krieges waren die Zahlen freilich noch höher: Im November 2022 haben im Schnitt allein in Wien mehr als 500 Personen pro Nacht ein Notquartier gebraucht. Die Koordinierung der Ankommenden und die Suche nach Unterkünften war nach Kriegsbeginn der größte und wichtigste Punkt.
Dafür wurde der „Integrierte Ukraine Stab“ initiiert. Er umfasste neben der BBU Mitglieder des BMI, des Österreichischen Bundesheers und der MA 70 – Wiener Berufsrettung. Am 17. März 2022 nahm er seine Arbeit am Wiener Hauptbahnhof auf.
Hier stand er 24 Stunden an sieben Tagen die Woche zur Verfügung. “Unser wesentlicher Auftrag war die koordinierte Aufnahme ankommender Ukraine-Vertriebener, sowie deren Weiterbeförderung aus den Ankunftszentren der Stadt Wien in die Aufnahmezentren der Bundesländer”, erklärt Christoph H*. Er leitet die BBU-Grundversorgungs-Koordinationsstelle und erinnert sich an diese intensive Zeit: “Wir haben nicht nur mit den Stellen des „Integrierten Ukraine Stabs“ zusammengearbeitet, sondern mit allen Grundversorgungsstellen der Bundesländer sowie NGOs.” In manchen Fällen wickelte die BBU den Bustransfers in der Ukraine bis in die Aufnahmezentren der Bundesländer ab. Viele geflüchtete Ukrainer*innen wurden in BBU-Nachbarschaftsquartieren untergebracht.
Die Organisation der Nachbarschaftsquartiere wickelte die BBU ebenfalls ab: Private Quartiergeber oder Unternehmen konnten freistehende Wohnmöglichkeiten registrieren und so rasch und unkompliziert ihre Unterstützung anbieten. Rund ein Jahr später, am 17.02.2023, wurde das 10.000ste Quartier registriert. Österreichweit konnten so insgesamt mehr als 50.000 Unterbringungsplätze angeboten werden.
“Zusätzlich kam es in den ersten Monaten immer wieder zu Sonderprozessen”, berichtet Christoph H. “Wir haben beispielsweise die Anreise und Aufnahme einer ca. 100-köpfigen Gruppe junger ukrainischer Fußballer organisiert. Sie wurden im Nachbarschaftsquartier Mariabrunn untergebracht.“ Dieses Quartier haben BBU-Mitarbeiter*innen binnen kürzester Zeit eröffnet.
Die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung war groß, daher richteten BMI und BBU im März 2022 gemeinsam eine deutschsprachige Hotline ein. Unter der fachlichen Leitung von BBU-Kommunikationsleiter Thomas Fussenegger beantworteten 44 Polizeischüler*innen 12 Stunden täglich Anfragen und Angebote engagierter Österreicher*innen.
Intensive Zeit
“Die erste Zeit war extrem intensiv, auch für mich persönlich“, sagt BBU-Mitarbeiterin Anastasiya V. Die gebürtige Ukrainerin erfuhr um fünf Uhr früh vom Kriegsausbruch. “Ich habe sofort meine Eltern angerufen. Sie haben gesagt, sie hören Explosionen in der Nähe.“
Für Anastasiya war klar: Sie musste etwas tun. “Eine Freundin hat dann zufällig einen Jobaufruf auf Facebook entdeckt.“ Das BMI und die BBU suchten dringend Mitarbeiter*innen für eine Hotline, um Ukrainer*innen in ihrer Erstsprache Auskunft geben zu können. Das Bewerbungsgespräch von Anastasiya V. fand am 28. Februar vormittags statt, um 13 Uhr startete ihre Arbeit. Rund eine Woche später beantworteten 27 Mitarbeiter*innen in der Ukraine-Hotline rund um die Uhr an sieben Tagen die Woche Fragen der Ukrainer*innen. Und diese waren zahlreich: Bis zu 1.000 Anrufe pro Tag verzeichnete die Hotline, der Höchstwert lag bei rund 1.400. “Zu Beginn wussten wir nicht, welche Fragen kommen werden, es gab noch wenige Infos. Unsere Kolleg*innen haben recherchiert, telefoniert und sich mit unterschiedlichen Organisationen besprochen. Es war extrem stressig.“
Wie finde ich eine passende Unterkunft? Ich habe keine richtigen Dokumente, wohin kann ich mich wenden? Wo lässt sich der Vertriebenenstatus erfassen? Was bedeutet das überhaupt? All das stellten die Hotline-Mitarbeiter*innen klar. Doch nicht nur die Vertriebenen selbst, auch Unterkunftgeber*innen, NGOs, Vereine, Krankenhäuser, Rettungsdienste, Ärzt*innen und Polizeistellen benötigten Auskünfte oder griffen auf die Sprachkompetenz der Hotline-Mitarbeiter*innen zurück – und tun das nach wie vor – zum Beispiel, wenn eine Ambulanz eine medizinische Übersetzung oder eine Familie eine Sprachmittlung beim Arzt braucht.
Kollegin Yana P. erhält ebenfalls immer wieder medizinische Anfragen. Der Grund sei klar: “Wir verfügen über die neuesten und vor allem über gesicherte Informationen.“
Hilfe per Anruf
Egal, worum es ging und geht, die Ukraine-Hotline war und ist eine wichtige Ansprechstelle. „Mich hat zum Beispiel ein Bub von einer öffentlichen Toilette aus angerufen. Er hatte sich verlaufen und wusste nicht, was er tun sollte, da er weder Deutsch noch Englisch konnte. Zum Glück hatte er aber ein Handy mit unserer Nummer dabei.”
Anastasiya fand nach der Beschreibung des Buben heraus, in welchem Ort er sich befand, und kontaktierte die dortige Polizei. “Die Polizei hat ihn abgeholt und zu seiner Unterkunft gebracht.”
Anfragen hören nicht auf
Die Anzahl der Anrufe hat sich seit Ausbruch des Krieges minimiert, ist aber nach wie vor auf hohem Niveau. Vor allem aber haben sich die Komplexität der Anfragen und die Dauer der Telefonate erhöht. Bis Ende 2023 liefen in der UKR-Hotline weiterhin durchschnittlich 1.000 Anrufe pro Monat ein. Derzeit steigt die Zahl der Anrufe wieder an. Im Jänner 2025 gab es 299 bearbeitete Anrufe mit einer durchschnittlichen Dauer von 8,4 Minuten. Mittlerweile ist die Hotline Montag bis Freitag besetzt und wird von Yana P. und Anastasiya V. abgewickelt.
Unsicherheiten sind nach wie vor vorhanden
Die Unterstützung ist auch nach wie vor bei vielen Themen erforderlich. Diese haben sich verändert. Zwar gibt es noch immer Anfragen bezüglich der Aufnahme und Unterkunft, doch vorrangig geht es um die Nostrifizierung von Diplomen, Arbeitssuche und Anmeldung beim AMS sowie Schul- und Bildungsangelegenheiten. Intensiv nachgefragt wird die Rot-Weiß-Rot-plus-Karte (RWRplus-Karte).
Unser Land hat eine lange Tradition der Hilfe und Unterstützung. Ich appelliere an die Menschen, diese Verantwortung auch nach drei Jahren Krieg nicht zu vergessen.
„Da die RWRplus-Karte hohe Hürden hat, steht sie nur Menschen zur Verfügung, die arbeiten können. Pensionist*innen oder Frauen mit betreuungspflichtigen Kindern stehen da vor großen Unsicherheiten, von ihnen erhalten wir immer wieder Anfragen dazu“, so Yana. Auch gute Deutschkenntnisse sind dafür eine Voraussetzung. Die Absolvierung eines Deutschkurses scheitert mitunter an logistischen Problemen. “Wir hatten schon Anrufe von Leuten, die in einem kleinen Dorf wohnen, wo selten ein Bus fährt und sie keinen Deutschkurs besuchen können.”
Nicht immer gibt es für jede Anruferin und jeden Anrufer die perfekte Lösung. “Wir können die Menschen manchmal nur unterstützen und sie über den derzeitigen Stand informieren. Aber wir motivieren sie dazu, die Sprache zu erlernen, das ist immer ein Vorteil“, sagt Yana P. Und manchmal, so Yana, ergibt sich dann doch etwas: “Voriges Jahr fand ein Pilotprojekt mit ÖIF und Train of Hope mit Deutschkursen für Senior*innen statt. Die waren sofort voll.” Das Pilotprojekt ist mittlerweile ein etabliertes Deutschangebot für Senior*innen in Wien und könnte als Vorzeigeprojekt auf die Bundesländer ausgerollt werden.
Die Hotline gibt nicht nur telefonische Auskünfte, sondern verschickt auch SMS. “So haben die Leute umfassende und richtige Information, die sie nachlesen können, das ist bei der RWR-plus-Karte von Vorteil.”
Ukraine-Unterstützung auf Youtube
In dieselbe Kerbe schlagen Youtube Videos, die auf dem BBU-Ukraine-Youtube-Kanal abrufbar sind. Hier geben Mitarbeiter*innen auf Ukrainisch umfassende Auskunft: Was sind die Voraussetzungen für die RWR-plus-Karte? Wie funktioniert das österreichische Schulsystem? Was passiert, wenn es in Österreich zu Todesfällen von Ukrainer*innen in Österreich kommt?
Aufklärung ist nach wie vor nötig. Das weiß Ukraine-Flüchtlingskoordinator Andreas Achrainer. Für ihn sind drei Punkte auch in Zukunft zentral: “Sie betreffen die Integration, die Anerkennung von Ausbildungen und die Hilfe für Menschen, die nicht mehr arbeiten können.“
Grundversorgung als Inaktivitätsfalle
Zum ersten Punkt, der verbesserten Integration, gehört, dass die die Menschen vor der ,Inaktivitätsfalle‘ und dem ,Waiting Dilemma‘ bewahrt werden und so schnell wie möglich im Arbeitsprozess integriert werden. Das heißt: Die Vertriebenen müssten so schnell wie möglich aus der Grundversorgung kommen.
Die Grundversorgung ist als erste Station für geflüchtete Menschen gedacht, wo sie das Nötigste erhalten: eine Unterkunft, Essen, Bekleidung und Krankenversicherung. Können sich Geflüchtete finanziell selbst erhalten, fällt diese Unterstützung sofort weg. Und das kann den Wohnplatz betreffen. „Das hält viele davon ab, auf den Arbeitsmarkt zu gehen, das Risiko ist zu groß“, kritisiert Achrainer. „Angenommen, eine Person wird nach der Probezeit gekündigt – dann steht sie buchstäblich auf der Straße.“ Frauen, die Kinder oder ältere Angehörige betreuen müssen, schaffen den Schritt in den Arbeitsmarkt nur schwer. Alleinerziehende stehen ebenfalls vor Schwierigkeiten: Sie verlieren bereits bei einem Teilzeitjob einen großen Teil der Unterstützung.
Österreichweite Regelung fehlt
Personen in der Grundversorgung dürfen 110 Euro als Freibetrag dazuverdienen. Pro Angehörige kommen 80 Euro dazu. Es gilt zwar eine flexiblere Zuverdienstmöglichkeit für Vertriebene (35/65 Freibetragsregelung: nur 65% werden an die Grundversorgung angerechnet, aber je höher der Verdienst, desto weniger Unterstützung gibt es von Bund und Land) – somit fällt die Person nicht komplett aus der GVS. Aber in Salzburg, Kärnten und Niederösterreich wird dies nicht umgesetzt!
Der Flüchtlingskoordinator spricht sich dafür aus, den Freibetrag zu erhöhen und die Regelung österreichweit geltend zu machen. Darüber hinaus fehlen Übergangs- oder Brückenmodelle, die es ermöglichen sich etwas anzusparen, um den Sprung raus aus der Grundversorgung in die Selbstständigkeit zu schaffen. Eine Möglichkeit wäre, die Vertriebenen in die Sozialhilfe aufzunehmen. Damit wären sie verpflichtend ans AMS gebunden und es würde zu mehr Eigenständigkeit führen. Außerdem würden Integrationsmaßnahmen besser greifen.“ Denn, so Andreas Achrainer: „Die Menschen wollen arbeiten!“ Hinsichtlich des Arbeitskräftemangels ist das ein wichtiger Punkt.
Fachkräfte gesucht – und gefunden!
Eine weitere Hürde auf dem Weg in den Arbeitsmarkt ist die langwierige und teure Anrechnung von ukrainischen Ausbildungen. Der Prozess kann bis zu drei Jahre dauern. Wesentliche Teile werden oft nicht anerkannt und müssen in Österreich nachgeholt werden.
Daria A. etwa hat in der Ukraine eine vierjährige Ausbildung zur Krankenpflegerin absolviert und in der Kardiologie gearbeitet und muss in Österreich als Abteilungshilfe von vorn beginnen.
Beschäftigung ist nicht für alle möglich
Trotz der Arbeitsintegration darf nicht auf die 7.200 Senior*innen, die Menschen mit Behinderung und Kriegsverletzungen vergessen werden, die keiner Arbeit nachgehen können. Bei Pensionist*innen wird die ukrainische Rente – sie beträgt in der Regel zwischen 40 und 120 Euro – von der Grundversorgungsleistung abgerechnet. Muss man mit 450 Euro monatlich auskommen und wohnt privat, ist das dennoch kein unwesentlicher Betrag. Dieser Abzug ist nicht nur eine Schikane, sondern auch ein unnötiger bürokratischer Mehraufwand. „Hier fordern wir schon lange ein, dass die Freibetragsregelung auch bei Pensionsbezug angewendet werden soll“, appelliert Andreas Achrainer mit Blick auf Bund und Länder, die mit der Grundversorgung befasst sind.
Es gibt also noch genügend zu tun. Andreas Achrainer ist davon überzeugt, dass Österreich die Hilfe weiter aufbringen wird.
Auch wenn der Krieg für uns zur Gewohnheit geworden ist, gehen die russischen Angriffe auf die Ukraine weiter. Und sie fordern auch nach drei Jahren Tote und Verletzte und zwingen Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen.
Wir können dabei wegschauen. Oder wir können helfen. Es ist eine Entscheidung, es liegt an uns.
*Unsere Mitarbeiter*innen sind in einem gesellschaftspolitisch hochsensiblen Bereich tätig. Um sie bestmöglich zu schützen, veröffentlichen wir nicht ihren vollständigen Namen.